Das Haus in der Gartenstraße
Es ist etwa ein halbes Jahr her, seit sich die Dinge zugetragen haben, von denen ich hier erstmals berichten möchte. Ich hege die Hoffnung, dadurch vielleicht die schrecklichen Geschehnisse endlich verarbeiten zu können und wieder in ein einigermaßen normales Leben zurück zu finden. Mir ist bewusst, dass mein Bericht kein gutes Licht auf mich werfen wird. Meine einzige Hoffnung ist, dass meine Leser unter Einbeziehung der Umstände nachvollziehen können, warum ich so handelte und die Sorgen meiner langjährigen Freundin, um die es hier geht, nicht ernst genug genommen habe.
Eine Vorbemerkung noch zu dem Fall selbst. Der grauenhaften Natur der Ereignisse wegen hat er natürlich auch Eingang in die üblichen Medienmeldungen jener Tage gefunden und ist dem Leser somit höchstwahrscheinlich bekannt. Soweit es die Öffentlichkeit angeht, handelte es sich um die ungewöhnlich blutrünstige Tat eines geistesgestörten Einzeltäters. Aufgrund meiner Einbeziehung in die Geschehnisse wusste ich jedoch schon damals, dass diese Darstellung mit großer Wahrscheinlichkeit unzutreffend ist. Vor einigen Wochen nun bin ich in den Besitz des Tagebuchs jener Freundin gelangt. Einige der Tatsachen, die sich aus den Eintragungen ergeben, sind auch mir neu und sie sind es auch, die mich nun dazu veranlassen, Tinas letzten Tage möglichst lückenlos zu rekonstruieren.
Ich kannte Tina schon sehr lange.Wir waren zusammen zur Schule gegangen und unsere gemeinsam verbrachte Jugend hat uns fest zusammengeschweißt. Später habe ich mich dann entschieden, ein Jurastudium zu absolvieren und bin heute als Anwalt tätig. Tina war sprachlich sehr begabt und entschied sich für ein Germanistikstudium an einer renommierten Universität in einer anderen Stadt, sodass wir keinen häufigen persönlichen Kontakt mehr hatten. Wir schrieben uns jedoch regelmäßig und telefonierten oft. So waren wir im Leben des anderen immer eine feste Größe und einander eine verlässliche Stütze. Sie arbeitete dann einige Jahre als Journalistin bei verschiedenen Zeitungen, bevor sie sich zunehmend als Kolumnistin betätigte und schriftstellerische Ambitionen zu verfolgen begann.
Während des Studiums hatte sie einen jungen Mann kennengelernt, Julian, mit dem sie bald eine Beziehung einging. Ich hatte ihn als sehr freundlichen, zuvorkommenden Menschen mit einem großen, aber gesunden Erfolgsdrang eingeschätzt. Mein Eindruck war, dass das Paar einander guttat. Die Jahre nach Ende ihres Studiums hatten sie gemeinsam in einer beengten Wohnung nahe der Universität gelebt, an der sie studiert hatten. Es war die gleiche Wohnung, in die Tina zu Beginn ihres Studiums im Rahmen einer WG gezogen war und nun hatten beide beschlossen, zusammen in eine größere Wohnung zu ziehen, die ihren Lebensstil besser repräsentierte. Das schien vor allem der Wunsch Julians zu sein, zumindest glaubte ich, das aus Tinas Äußerungen herauszuhören. Nachdem ich nun ihr Tagebuch lesen durfte, bin ich mir dessen sicher und wünsche mir seitdem, sie hätte sich in diesem Punkt durchgesetzt. Immerhin erwähnte sie mir gegenüber mehrfach, dass sie den Straßennamen mochte, der ihre neue Anschrift bilden sollte: Gartenstraße. Die neue Wohnung war sehr modern, insofern entsprach sie dem Geschmack beider Partner. Ich muss hier verdeutlichen, dass Tina keineswegs etwas gegen die Wohnung an sich gehabt hatte. Sie hätte lediglich den gesamten Umzug nicht für nötig befunden. Sie hatte eine bescheidene Persönlichkeit mit der bemerkenswerten Eigenschaft, auch aus den einfachen Dingen des Lebens einen großen Genuss zu ziehen. Ich glaube, dies verschaffte ihr mehr Befriedigung, als es der Besitz ausgefallener oder kostspieliger Dinge jemals gekonnt hätte.
Der Umzug selbst war wohl problemlos verlaufen. Ich hatte ihnen meine Hilfe dabei angeboten, muss aber gestehen, dass ich sehr erleichtert war, als sie mein Angebot dankend ausschlugen. Zu der Zeit hatte unsere Kanzlei gerade eine ganz besonders komplizierte Nachlassabwicklung zu bearbeiten, die mich sehr in Anspruch nahm. Tina hatte sich einige Zeit freinehmen können und wollte sich der Einrichtung der neuen Wohnung sorgfältig widmen.
Ich habe beschlossen, an den Stellen, an denen es mir sinnvoll erscheint, nach Möglichkeit aus dem Tagebuch Tinas zu zitieren, um sie so selbst zu Wort kommen und ihre Sicht der Dinge darlegen zu lassen. Ihre Eltern, die mich seit meiner Jugend kennen und mit denen ich ein freundschaftliches Verhältnis pflege, halten das ebenfalls für angemessen und richtig. Sie waren es auch, die mir das Tagebuch zur Verfügung gestellt haben.
Hier also Tinas eigener Tagebucheintrag, der auf den Tag ihres Einzugs datiert.
4.11.2018
Heute war es endlich soweit. Naja, eigentlich war es gestern, ich war einfach zu fertig, um noch etwas aufzuschreiben. Der Umzug war stressfreier, als ich befürchtet hatte. Julian hat ein gutes Umzugsunternehmen ausgesucht. Aber diese blöde Kuh aus unserem Haus hat uns die ganze Zeit mit ihren bösen kleinen Äuglein beobachtet. Bestimmt ist sie eine Hexe. Julian meint, wahrscheinlich hat sie gehofft, unsere Arbeiter würden irgendwas am Haus beschädigen, damit sie es auf unsere Kosten renovieren lassen kann. Sie ist auf jeden Fall eine blöde Kuh. Ich sage das nicht zu Julian, weil der mich nur wieder so genervt angucken würde, aber ich fühle mich nicht so besonders wohl mit dieser Frau unter einem Dach. Es ist dann ziemlich spät geworden. Wir haben nur noch schnell Instantnudeln aufgewärmt und Julian hat rumgeblödelt und den vornehmen Weinkellner gespielt. Wir hatten uns doch diese besondere Flasche Wein aufgehoben, die meine Eltern uns zu Weihnachten geschenkt hatten, damit wir sie am Tag unseres Einzugs trinken können. Er hat wirklich dran gedacht, hätte ich nicht erwartet.
Das Abendessen war seltsam. Überall war es dunkel, wir saßen am Tisch mit dieser funzeligen Kerze, weil wir natürlich noch keine Lampen aufgehängt hatten. Als ob man unter einer Lichtglocke sitzt, um uns herum konnte man nur schemenhaft die Umzugskartons gestapelt sehen. Julian fand es romantisch, ich fand, es war irgendwie unheimlich. Aber so ist das eben in einer neuen Umgebung.
Der Blick aus dem Fenster ist aber fantastisch. Bei Nacht hatte ich ihn ja noch nie gesehen, aber man sieht in der Ferne irgendwelche roten Lichter blinken und bei klarem Himmel hat man bestimmt einen tollen Blick auf die Sterne. Ich gucke auch jetzt wieder raus und staune. An vieles muss ich mich aber noch gewöhnen, zum Beispiel an das Schlafzimmer. In der alten Wohnung mussten wir ja keine Vorhänge vor den Fenstern haben, aber hier haben die Nachbarn ihren Balkon praktisch direkt vor unserem Schlafzimmerfenster. Das ist echt düster und bedrückend, wenn es so stockdunkel ist. Ich fühle mich da richtig eingesperrt. Dann noch dieser riesige neue Kleiderschrank, wie ein Gebirge am Fuß des Bettes. Ich hab auch nicht gut geschlafen und in der Nacht ist dann was Seltsames passiert. Ich bin irgendwann nach ein Uhr wach geworden. Irgendwas hat geklappert, gar nicht mal so laut, aber regelmäßig und irgendwie eindringlich, ich weiß nicht, wie ich das sonst beschreiben soll. Als ob irgendetwas irgendwo raus will. Julian hat natürlich geschnarcht, typisch. Ich habe ihm noch nichts davon erzählt, vielleicht mache ich das, wenn er heute Abend heimkommt.
Jetzt habe ich aber erst mal genug Zeit verschwendet, die Mittagspause ist vorbei. Das Bücherregal will eingeräumt werden!
Ich selbst hatte zu diesem Zeitpunkt noch keinen Kontakt zu Tina gehabt, seit sie umgezogen waren. Wir telefonierten an dem Tag, nachdem sie den obigen Tagebucheintrag verfasst hatte, also zwei Tage nach dem eigentlichen Umzug, am fünften November. Sie war guter Laune und benahm sich ganz so, wie ich sie kannte. Sie war ein logisch denkender Mensch, aber auch sehr emotional und gefühlsbetont im Gespräch, wenn man sie gut kannte. In diesem Gespräch war sie mir fröhlich vorgekommen. Sie berichtete mit dem ihr eigenen Humor vom Tag des Umzugs, der ihr unsympathischen Nachbarin und der surrealen Stimmung während des Abendessens, so, wie sie dies auch in ihrem Tagebucheintrag schildert. Über die Geräusche, die sie in ihrer ersten Nacht aufgeweckt hatten, sprach sie mir gegenüber nicht. Ich schließe daraus, dass sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht sonderlich beunruhigt gewesen war. Möglicherweise wollte sie aber auch nur nicht als hysterisch empfunden werden. Ich weiß, dass ihr die Meinung anderer über sie selbst nicht so egal gewesen war, wie sie es gern gehabt hätte.
Am Sonntag, dem Tag nach dem Umzug, hatten sie und Julian ihrem Bericht nach weitere Kartons ausgepackt, Lampen aufgehängt und verschiedene weitere Arbeiten ausgeführt.
Für den Montag, also den nächsten Tag, hatte sie geplant, die Wohnung weiter einzurichten, während Julian auf der Arbeit war. Wir vereinbarten, im Lauf der nächsten Woche wieder zu telefonieren und ich wünschte ihr ein glückliches Händchen beim Dekorieren. Ich hörte aber schon deutlich früher wieder von ihr.
Am übernächsten Tag, Dienstag, den sechsten November, erhielt ich am frühen Nachmittag eine SMS von Tina. Der Inhalt schien mir zu diesem Zeitpunkt eine sehr sonderbare und gleichzeitig belanglose Frage zu sein und ich gebe zu, dass ich sie erst am Abend beantwortete. Ich hatte sie nach einem Meeting mit einem Klienten erhalten, das ich unbedingt direkt nachbereiten wollte. Danach vergaß ich Tinas SMS bis zum Abend.
Ich habe in aller Bescheidenheit eines recht glückliches Händchen im Umgang mit Zimmerpflanzen, was wohl der Grund dafür gewesen war, dass sie sich mit ihrer Frage an mich gewandt hatte. Sie wollte wissen, ob ein frischer Blumenstrauß schon am Tag nach dem Kauf restlos verwelkt sein konnte. Ich schrieb ihr, dass ich mir das bei einem frischen Blumenstrauß nicht erklären könne und dachte nicht mehr an ihre seltsame Frage, bis sie mich am nächsten Tag, dem Mittwoch, anrief. Diese Kontaktaufnahme wunderte mich, da wir ja erst in der darauffolgenden Woche wieder ein Gespräch führen wollten. Sie wirkte beunruhigt auf mich, was ich aus dem eher sprunghaften Gesprächsverlauf ableitete. Auch musste ich oft Dinge wiederholen, da sie offenbar mit den Gedanken anderswo gewesen war, während ich gesprochen hatte. Sie erzählte mir bei dieser Gelegenheit ausführlich von der Episode, die zu der SMS bezüglich des Blumenstraußes geführt hatte.
Sie sei am Morgen des fünften November (Montag) im Zuge ihrer Bemühungen, die Wohnung zu dekorieren, zu einem nahe gelegenen Blumenladen gegangen. Dort habe sie mehrere Blumensträuße erstanden, um sie an verschiedenen Plätzen in der Wohnung aufzustellen. Am nächsten Tag habe sie dann überrascht festgestellt, dass einer der Sträuße gänzlich verwelkt gewesen sei. Die Blütenblätter hätten um den Strauß herum verteilt auf dem Boden und dem Schränkchen gelegen, auf dem die Vase mit dem Strauß gestanden hätte. Auch sei das Wasser regelrecht braun geworden und habe übel gerochen. Am seltsamsten aber fand sie die Tatsache, dass die anderen beiden Sträuße, die sie zusammen mit dem verwelkten erstanden hatte, in bestem Zustand gewesen seien. Ich antwortete ihr erneut, dass ich mir das nicht erklären könne. Auch ein ungünstiger Standort bringt Blumen nicht über Nacht zum Verwelken. Ich sagte ihr, ich könne mir nur vorstellen, dass die entsprechende Vase stark verunreinigt gewesen sein müsste. Allerdings war das ehrlich gesagt mehr eine Schutzbehauptung gewesen.
Am Vorabend war allerdings noch etwas geschehen, das sie sehr beunruhigte. Ich bin mir darüber im Klaren, dass meine Erzählweise berufsbedingt etwas distanziert anmutet und möchte deshalb wieder Tina selbst zu Wort kommen lassen, obwohl sie mir von jenen Dingen auch selbst am Telefon erzählt hat.
6.11.2018
Oh Gott, meine Hände zittern immer noch. Schreiben beruhigt mich aber normalerweise, also versuche ich es damit. Eben wollte ich nur die Gläser zurückstellen, da habe ich es gesehen. Ich weiß nicht, wie sowas sein kann. Ich habe nur auf der Couch gesessen. Julian ist schon im Bett, er muss ja morgen wieder arbeiten. Ich habe mir einen Wein eingeschenkt und Musik angemacht. Bisschen Entspannung nach diesem Tag. Eben will ich also das Weinglas in die Küche tragen, da sehe ich, wie der Wein auf dem Tisch am Kamin sich in der Flasche bewegt! Ich bin wie erstarrt stehengeblieben. Ich hab zuerst gedacht, es kommt nur durch meine Schritte oder so und bin stehen geblieben. Aber der Wein hat nicht nur weiter rumgeschwappt, es ist auch noch immer stärker geworden! Und dann hat es von einem Moment auf den nächsten einfach aufgehört! Ich hab dann das Glas in die Küche gebracht und während ich noch in der Küche bin höre ich es laut klirren – Die Weinflasche ist einfach von dem Tischchen gefallen, wo sie einen Moment vorher noch total sicher gestanden hat! Ich zittere immer noch. Und das nach der Sache mit dem Blumenstrauß heute morgen, das hab ich ja auch noch nicht erzählt. Einer der Sträuße, die ich gestern gekauft habe, ist über Nacht komplett verwelkt! Sowas habe ich noch nicht erlebt. Ich hab Michael geschrieben, aber der hatte auch keinen Schimmer, wie das sein kann. Die anderen Sträuße waren alle noch frisch, nur der eine! Komplett welk, überall lagen Blätter und Blütenstaub. Julian hat gelacht und findet es, Zitat: ‚kurios‘. Mal sehen, wie er das mit der Weinflasche findet, wenn ich es ihm morgen erzähle. Wahrscheinlich ‚erstaunlich‘.
In den nächsten Tagen habe ich dann nichts mehr von Tina gehört. Ich fand die Zwischenfälle zwar auch ungewöhnlich, habe mir aber auch keine weiteren Gedanken darüber gemacht. Im direkten Anschluss an das Gespräch dachte ich an leichte Erdstöße, vorbeifahrende LKW oder ähnliche Gründe für die schwankende Oberfläche des Weins. Möglicherweise hatte Tina die Flasche daraufhin in die Hand genommen, ohne sich später in ihrer Aufregung daran zu erinnern, und sie so unsicher abgestellt, dass sie kurz darauf zu Boden fiel. Ich schämte mich später, als ich erfuhr, dass Julian ihre Sorgen mit ganz ähnlichen Unterstellungen abgetan hatte.
Dann dachte ich einige Tage nicht mehr an Tina. Wie bereits erwähnt war ich beruflich zu dieser Zeit stark gefordert und fand nur selten Zeit, um an andere Dinge zu denken. Es war erst am darauffolgenden Dienstag, dass sie mich wieder anrief. Sie war gerade in der Stadt unterwegs und fragte mich, ob ich nicht meine Mittagspause nutzen wolle, um mit ihr etwas zu essen. Ich war froh über diesen spontanen Vorschlag und die Möglichkeit, der Tristesse der Kanzlei für eine Stunde zu entkommen.
Wir trafen uns in einer Salatbar in der Nähe, die wir schon zu unseren Studienzeiten oft gemeinsam besucht hatten. Sie war aufgrund der Mittagszeit recht voll, aber ein geschützter Platz in einer Sitznische wurde gerade frei, als wir eintraten. Tina hatte zwar einen Salat bestellt, jedoch bemerkte ich bald, dass sie nicht viel davon aß. Sie wirkte fahrig und unruhig und war außerdem sehr blass.
Sie erzählte mir bald, dass zusätzlich zu den merkwürdigen Ereignissen, von denen bereits die Rede war, noch weitere Dinge geschehen waren, die sie zutiefst beunruhigten. Ich hatte Mühe, ihrem Bericht zu folgen, da sie sehr sprunghaft erzählte, aber offensichtlich waren zu verschiedenen Tageszeiten Dinge umgefallen, die eigentlich sicheren Stand gehabt hätten, andere Gegenstände wären gänzlich verschwunden. Eines Morgens habe sie im Kamin Asche entdeckt, obwohl sie diesen noch nie benutzt hatten. In mehreren Nächten seien die eigentümlichen klappernden Geräusche aufgetreten, die sie bereits in der ersten Nacht in der Wohnung gehört hatte.
Besonders beunruhigte Tina, dass sie immer zur gleichen Uhrzeit aufzutreten schienen, um ein Uhr zehn in der Nacht. Sie erzählte mir, dass sie herausgefunden hatte, dass sie nicht in ihrem Schlafzimmer ihren Ursprung hatten, wie sie ursprünglich vermutet hatte, sondern offenbar im Flur. Auch im Wohnzimmer seien sie deutlicher zu hören gewesen als im Schlafzimmer.
Sie beklagte sich bei mir, dass Julian sie noch immer nicht ernst nehmen würde. Das war insofern ungewöhnlich, als dass sie während der gesamten bisherigen Zeit ihrer Beziehung nie ein schlechtes Wort über ihren Partner verloren hatte. Wohl hatte es ein wenig Kritik hier und da gegeben, aber immer mit einem gutmütigen Unterton oder einem Augenzwinkern.
Die verschwundenen oder umgefallenen Gegenstände schrieb er ihrer Ungeschicklichkeit oder Vergesslichkeit zu, das Klappern dem Wind. Lediglich die Asche schien ihn auch verwundert zu haben, er sei aber letztlich der Ansicht, die Vormieter hätten sie wohl im Kamin gelassen. Tina schloss das kategorisch aus und ich glaube ihr. Was Sauberkeit anging war sie sehr gewissenhaft.
Gegen Ende unseres Treffens vertraute sie mir die Zweitschlüssel ihrer Wohnung an. Angeblich als Sicherheit und im Falle, dass ich einmal während ihres Urlaubs ihre Blumen pflegen würde, aber die Beiläufigkeit, mit der sie mir das erklärte, ließ mich vermuten, dass sie einen anderen Grund dafür hatte. Heute glaube ich, sie tat es, damit jemand in der Lage wäre, sie falls nötig aus der Wohnung zu retten. Das klingt sicher sehr dramatisch und ich bin auch erst jetzt im Nachhinein davon überzeugt, dass sie sich zum Zeitpunkt unseres Treffens vor der Wohnung fürchtete, in die sie mit Julian gezogen war. Es gehört zu den schmerzhaftesten Eingeständnissen, die ich mir machen muss, dass ich hierbei völlig versagt und ihr Vertrauen und Ihre Hoffnungen in mich gänzlich enttäuscht habe. Ich habe sie nicht gerettet.
Als wir uns an diesem Tag nach dem Essen von einander verabschiedeten, war es das letzte Mal war, dass ich Tina lebend sah.
13.11.2018
Michael glaubt mir auch nicht, ich habe es in seinen Augen gesehen. Ich würde es mir wahrscheinlich auch nicht glauben. Solche Sachen passieren einfach nicht! Mein Gott, ich bin Schriftstellerin! Ich erfinde solche Horrorgeschichten, aber ich weiß doch, dass es sowas nicht geben kann!
Ich war noch in der Stadt, nach dem Treffen mit Michael. Der hat jetzt wenigstens den Wohnungsschlüssel, falls irgendwas ist. Dabei ist mir schon viel wohler. Mein guter alter Detektiv Sørensen hat schon in bestimmt zehn Krimis die Zeitungsarchive nach Hinweisen durchsucht, aber ich hab das heute tatsächlich zum ersten Mal gemacht. Es gibt sowas wirklich und es ist genauso langweilig, wie ich es immer beschreibe. Von wegen, man kann nur von dem schreiben, was man kennt. Jedenfalls hab ich nichts gefunden, was mit unserer Wohnung oder dem Haus zusammenhängt. So lange steht das ja auch noch nicht. Ich weiß auch nicht, was ich gesucht habe. Irgendeine Begründung wahrscheinlich, wie in einer Gruselgeschichte. Ein grausamer Mord oder so, irgendeinen Grund für eine arme Seele, in unserer Wohnung zu spuken. Ach, wenn man das aufschreibt kommt es einem wieder richtig albern vor. Aber ich hab wirklich Panik. Ich hab nie an Geister geglaubt oder sowas, aber jetzt…Ich glaub, nur zur Sicherheit mache ich morgen noch das mit diesem Austreibungsritual, was mir Klarissa geraten hat. Dass ich selbst mal was von diesem Esoterik-Quatsch machen würde hätte ich auch nicht gedacht.
14.11.2018
Ich glaube, das war ein riesiger Fehler. Wir hätten das nicht tun dürfen. Ich hab das doch auch noch nie gemacht! Klarissa hat gesagt, mit den Räucherstäbchen in den Zimmerecken immer auf und ab und dann gegen den Uhrzeigersinn. Julian hat zwar mitgemacht, aber dauernd mit dummen Kommentaren und Frotzeleien über irgendwelche mordlustigen Gespenster, der Idiot. Und dann hat er mit den Räucherstäbchen rumgefuchtelt und mal im Uhrzeigersinn, mal dagegen. Wir sind nicht mal bis ins Wohnzimmer gekommen. Im Flur, da wo der Blumenstrauß war, der verwelkt ist, sind die Räucherstäbchen einfach ausgegangen. Beide! Und wir konnten sie nicht mehr anzünden. Und das Verrückteste ist: Das haben wir gegen sechs Uhr gemacht, dann haben wir gegessen und Julian ist um Viertel vor zehn ins Bett. Jetzt ist es fast elf und ich weiß ums Verrecken nicht, was ich in der Zwischenzeit gemacht hab! Ich bin vielleicht eingeschlafen, ich weiß nicht, aber ich glaub es eigentlich nicht. Ich hab ein ganz übles Gefühl. Irgendetwas ist hier. Wir hätten das nicht machen dürfen.
Das waren die letzten Einträge in Tinas Tagebuch. Sie rief mich am Abend des darauffolgenden Tages noch einmal an. Sie war völlig aufgelöst. Am Morgen und im Verlauf des Tages hatte sie noch weitere Episoden gehabt, die sie als Blackouts bezeichnete und in denen sie sich an nichts erinnern konnte. Sie wusste noch genau, was sie jeweils vor diesen Lücken getan hatte, aber plötzlich habe sie sich an einem ganz anderen Platz in der Wohnung befunden und die Uhrzeit sei vorangeschritten gewesen. Einmal habe sie den Schürhaken in der Hand gehalten, ohne sich erinnern zu können, warum sie ihn aufgehoben hatte oder dass sie das überhaupt getan hatte.
Als sie mich abends anrief war sie zutiefst darüber beunruhigt, dass Julian noch nicht nach Hause gekommen war. Er kam wohl üblicherweise zu relativ festen Zeiten von der Arbeit und rief stets an, wenn er sich verspätete. Sie hatte ein paar Stunden gewartet und dann in seinem Büro angerufen, wo aber niemand mehr abnahm. In ihrer zunehmenden Angst rief sie dann in den städtischen Krankenhäusern an und erkundigte sich, ob er dort eingeliefert worden sei, aber nirgends war er aufgenommen worden. Die Polizei wollte sie noch nicht behelligen, schließlich war Julian erwachsen und erst ein paar Stunden verspätet.
Ich riet ihr, Ruhe zu bewahren und noch etwas abzuwarten. Ich nahm an, er habe vielleicht einen alten Bekannten getroffen und über der Wiedersehensfreude vergessen, sich zu Hause zu melden oder habe aus irgendeinem anderen Grund nichts von sich hören lassen Ich verstand ihre Beunruhigung, insbesondere nach der nervlichen Anspannung der letzten Tage, aber ich machte mir keine ernsthaften Sorgen um die Sicherheit Julians.
Heute ist mir klar, dass alle diese Gründe mich nicht davon hätten abhalten dürfen anzuerkennen, dass es Tina schlecht ging und sie Unterstützung benötigt hatte, egal, wie begründet oder unbegründet ihre Ängste in meinen Augen auch gewesen sein mochten. Ich mache mir große Vorwürfe, dass ich nicht zu ihr gefahren bin oder ihr anderweitig geholfen habe. Obwohl ich heute natürlich auch den Gedanken nicht loswerde, ob mich dann nicht ein ähnliches Schicksal ereilt hätte wie sie.
Sie versprach, mich auf dem Laufenden zu halten, als wir unser letztes Telefongespräch schließlich beendeten. Es schmerzt mich sehr, dass die letzte Erinnerung, die ich an meine alte Freundin habe, die Angst und Panik sind, die ich in ihrer zittrigen Stimme hörte, als sie sich an diesem Abend am Telefon von mir verabschiedete.
Ich wurde am nächsten Morgen früh um sechs Uhr vom Klingeln des Telefons geweckt und vermutete zuerst, es sei Tina mit Neuigkeiten zum Verbleib Julians. Aber es war Tinas Mutter, die besorgt war, da sie nichts mehr von ihrer Tochter gehört hatte. Telefonisch war Tina nicht zu erreichen und da sie ihrer Mutter erzählt hatte, dass sie mir einen Schlüssel zu ihrer Wohnung gegeben hatte, bat sie mich, nach dem Rechten zu sehen.
Ich muss hier einwerfen, dass Tinas Eltern zu dieser Zeit bei Verwandten im Norden zu Besuch waren und deshalb nicht selbst tätig werden konnten. Am Vorabend hatte es noch eine seltsame Entwicklung gegeben, von der mir ihre Mutter nun berichtete: Tina hatte festgestellt, dass Julians Schuhe an ihrem üblichen Platz im Schuhschrank standen. Sie hatte daraufhin in der Garage nachgesehen und dort stand auch das Auto, mit dem er eigentlich unterwegs sein sollte. Es entstand also der Eindruck, dass Julian entweder die Wohnung am Morgen gar nicht erst verlassen hatte oder aber nach Hause gekommen war, ohne dass Tina dies bemerkt hätte.
Ich dachte an ihre mysteriösen Blackouts, wusste aber auch nicht recht, wie ich alle seltsamen Fakten zu einem stimmigen Bild verbinden sollte. Ich erklärte mich selbstverständlich dazu bereit, in der Wohnung nach Tina zu sehen. Nachdem ich selbst noch einmal erfolglos versucht hatte, sowohl sie als auch Julian auf dem Handy zu erreichen, machte ich mich auf den Weg, nicht ohne ein ungutes Gefühl im Magen.
Ich war bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der neuen Wohnung der beiden gewesen, fand sie aber ohne Schwierigkeiten. Das Gebäude machte einen modernen und ordentlichen Eindruck auf mich. Auf mein Klingeln an der Wohnungstür öffnete niemand, also schloss ich schließlich selbst auf.
Trotz all meiner Bemühungen fürchte ich, dass ich die Bilder, die ich zu sehen bekam, nachdem ich die Wohnung betreten hatte, nie wieder aus meinem Gedächtnis werde tilgen können. Sie verfolgen mich bis heute in meinen Träumen.
Sofort nach dem Öffnen der Tür fiel mir ein strenger, metallischer Geruch auf. Ich vermute, ich wollte es zu diesem Zeitpunkt noch nicht wahrhaben, aber es war eindeutig der Geruch von Blut. Eine offene Tür führte von dem Flur, in dem man nach Betreten der Wohnung stand, direkt in das Wohnzimmer. Es ging dann alles sehr schnell. Ich betrat das Wohnzimmer, wo der Geruch sofort übermächtig wurde. Zuerst sah ich nichts, nur den atemberaubenden Blick aus einem Panoramafenster, das die gesamte gegenüberliegende Wand einnahm. Dann nahm ich einen Schatten zu meiner Linken wahr.
Tina lag auf dem Boden vor dem Kamin, das Gesicht von mir abgewandt, in einer großen Lache aus getrocknetem Blut. Der rechte Arm hing in einem äußerst unnatürlichen Winkel über ihren Rücken hinab und die Hand umklammerte noch den Schürhaken, der ebenfalls blutig war. Ich wagte es nicht, auch nur einen Schritt näher zu gehen. Ich hatte einen schweren Schock erlitten und das Grauen packte mich derart heftig, dass ich wohl einen lauten Schrei ausgestoßen haben muss. Ich erholte mich schließlich soweit, dass ich die Polizei informieren konnte und musste später mit Beruhigungsmitteln behandelt und von einem Psychologen betreut werden.
Die restlichen Fakten, wie die Polizei sie schließlich feststellte, sind sicherlich hinreichend aus den Nachrichten bekannt. Man fand heraus, dass Tinas Arm mehrfach gebrochen war. Ihr Kopf wies eine erhebliche Wunde auf, die von mehreren enormen Schlägen mit dem Schürhaken herrührte. Der Gerichtsmediziner kam zu dem Schluss, dass sie sich die Verletzungen unmöglich selbst zugefügt haben konnte. Die Art, wie sie den Schürhaken gehalten hatte, habe das wohl nicht zugelassen. Außerdem waren mehrere Schläge ausgeführt worden, nachdem sie bereits tot gewesen sein musste. Es sah aus, als habe jemand den Schürhaken mit äußerster Gewalt gegen sie eingesetzt, während sie ihn in der Hand gehalten hatte. Es befanden sich aber keine fremden Fingerabdrücke oder sonstigen Spuren darauf oder irgendwo sonst in der Wohnung. Die Wohnungstür war abgeschlossen gewesen, als ich gekommen war und alle Fenster waren intakt und unversehrt gewesen.
Schließlich fanden die Ermittler im Kamin die halb verbrannten Überreste eines menschlichen Körpers, den sie als den von Julian identifizierten. Sein Todeszeitpunkt fiel relativ genau mit der Zeit zusammen, zu der er üblicherweise nach Hause kam und von der Tina mir an jenem Abend noch berichtet hatte, dass sie an sie wegen eines ihrer Blackouts keine Erinnerung habe.
Dem Gerichtsmediziner zufolge starb sie selbst zwischen ein Uhr und halb zwei in der Nacht und ich gebe zu, dass mir ein eiskalter Schauer über den Rücken lief, als mir Tinas Berichte über das mysteriöse Klappern einfielen, das immer pünktlich um zehn Minuten nach eins in der Nacht begonnen hatte.
Trotz intensiver Bemühungen konnte die Polizei den Fall nicht aufklären. Aus meinen Gesprächen mit Tina war zu entnehmen, dass die nächtlichen Geräusche im Wohnzimmer und im Flur am lautesten gewesen waren. Nach meinen Hinweisen konnte die Polizei den Ort bestimmen, an dem der Blumenstrauß gestanden haben musste, der so plötzlich über Nacht verwelkt war. Es handelte sich um ein Schränkchen im Flur, exakt an der Rückseite des Kamins, der sich auf der anderen Seite der Wand im Wohnzimmer befand. Auch die Weinflasche hatte sich nahe dem Kamin befunden, als sie an einem der ersten Abende in der Wohnung so unerwartet zerschellt war.
Alle diese beunruhigenden Details wiesen auf den Kamin als Zentrum der Ereignisse hin, aber auch mit den neuen Erkenntnissen aus Tinas Tagebuch können die Ermittler keine vernünftigen Schlüsse ziehen.
Ich will nicht verschweigen, dass ich eine Zeit lang als Hauptverdächtiger galt. Schließlich war ich der einzige, der außer den Bewohnern der Wohnung noch einen Schlüssel hatte und somit die Möglichkeit gehabt hatte, das Verbrechen zu begehen. Zu meiner Entlastung trugen dann neben dem völligen Fehlen jeden Motivs schließlich die Telefonate bei, die Tina mit ihren Eltern und ihrer Freundin Klarissa geführt und in denen sie ebenfalls von den mysteriösen Ereignissen der Tage vor ihrem Tod gesprochen hatte. Das Auftauchen ihres Tagebuchs erhärtet meine Unschuld zum Glück noch weiter. Der Fall wurde als ungelöst geschlossen.
Ich weiß, dass ich auch jetzt die Umstände nicht werde vergessen können, unter denen ich meine gute Freundin Tina verloren habe. Ihre letzten Tage noch einmal mit ihren eigenen Worten beschrieben zu lesen hat mich zutiefst erschüttert. Das Schließen einiger Lücken in den Geschehnissen jener unheilvollen Tage und die Niederschrift dieses Berichts waren für mich zwar bis zu einem gewissen Grade heilsam. Ich werde jedoch sicherlich nie darüber hinwegkommen, dass Tina und Julian auf solch schreckliche Art und Weise von uns gehen mussten und dass wir wohl niemals erfahren werden, was die tatsächlichen Umstände ihres Todes waren.
Auch wenn die Polizei den Fall zu den Akten gegeben hat weiß ich, dass die damaligen Ermittler inoffiziell selbst noch immer versuchen, eine Erklärung zu finden. Soweit ich informiert bin, sind die Mieter der anderen Wohnungen im Haus in der Gartenstraße nach und nach ausgezogen und die Besitzer waren bis heute nicht in der Lage, neue Mieter zu gewinnen. Das Haus wird sich selbst überlassen und beginnt langsam zu verfallen.
Ich konnte mir vor alledem nicht vorstellen, dass ein gerade einmal zehn Jahre altes, modernes Gebäude die Menschen zum Schaudern bringen könnte. Aber wie es scheint müssen alle Schauergeschichten irgendwann einmal beginnen.
Für folgende Generationen mag das Haus an der Gartenstraße einmal ein Symbol für Grusel und Schrecken sein, über das man sich wohlig schaudernd Geschichten erzählt. Für mich ist es ein Denkmal für meine alte Freundin Tina und eine Erinnerung daran, die Menschen, die uns nahe stehen, ernst zu nehmen.
Auch wenn ihre Ängste uns unsinnig erscheinen sind sie dennoch real – und haben manchmal noch viel grauenhaftere Gründe, als wir uns vorstellen können.
ENDE
Faire Bücher!
Autoren erhalten nur ca. 7% des Verkaufspreises eines Buchs. Deshalb verzichten Shops wie Autorenwelt.de zugunsten der Autoren auf einen Teil ihres Gewinns. Indem du dort einkaufst, unterstützt du die faire Bezahlung von Kreativen. Danke!