Die Nacht der lebenden Toten

Von meinem Schlafzimmerfenster aus kann ich die Dächer von drei Grüften sehen. Abends, wenn ich schlafen gehe, glänzt das Mondlicht darauf und wenn ich morgens aus der dampfenden Dusche steige, sehe ich auch draußen die Kreuze im Nebel liegen. Der Garten hinter dem Haus grenzt direkt an den Friedhof. Es gibt sogar eine alte Pforte in der Steinmauer, aber ich habe keinen Schlüssel dafür. Ich glaube, in meinem Haus hat früher der Friedhofswärter gewohnt. Die meiste Zeit des Jahres ist der Friedhof kein Problem. Im Gegenteil: Er sieht immer schön grün aus, es gibt keinen Lärm und keine Nachbarn, die sich beschweren. Nur Eichhörnchen und Vögel kommen manchmal von der anderen Seite über die Mauer und besuchen mich.

Aber einmal im Jahr, im Herbst, muss man sich in Acht nehmen. Die meisten Leute denken, zu Halloween ist es gefährlich, aber das stimmt nicht ganz. Man muss auf den Mond achten. Ende Oktober gibt es jedes Jahr eine Nacht, in der er riesig und fett und orange wie ein Kürbis am Himmel steht. Wenn ich das sehe, bin ich auf der Hut. Dann eile ich durch das Haus und verriegle alle Türen. Die Fenster verschließe ich mit den Läden, wenn ich es noch wage, sie dafür kurz zu öffnen. Spätestens, wenn ein seltsam dichter und schwerer Nebel über die Friedhofsmauer kriecht und in meinen Garten schwappt, setze ich keinen Fuß mehr vor die Tür. In dieser einen Nacht im Jahr nämlich dürfen die Toten ihre Gräber und Grüfte verlassen – sofern sie noch die nötigen Gliedmaßen dafür besitzen. Wenn sie in dieser Nacht einen Menschen dazu bringen können, ihren Platz im Grab einzunehmen, dürfen sie stattdessen ins Leben zurückkehren.
Die Toten sind dabei recht erfinderisch. Im letzten Jahr hat sich eine ganze Gruppe halb verwester Körper als Paketboten ausgegeben und dabei erstaunliche Erfolge in der Nachbarschaft erzielt. Ich habe auch von einem verblichenen Oberarzt gehört, der unter falschen Versprechungen von kurzfristigen Facharztterminen einen Platz im Diesseits ergattert hat. Andere Verstorbene gehen freilich noch rabiater vor und verhalten sich, wie ein erfahrener Kinogänger es von einem Untoten erwartet.

In diesem Jahr nun waren die Umstände besonders widrig. Es war wieder besagte Jahreszeit und die Nacht von Halloween war gekommen. Wie schon erwähnt weiß ich, dass kein besonderer Spuk an dieses Datum geknüpft ist. Ich machte mir also keine Sorgen und stellte Behälter voller Süßigkeiten bereit, um die größte Gefahr dieser Nacht abwehren zu können: Hungrige Kinder.
Es war eine dunkle Nacht. Der Himmel war von schweren Wolken verdeckt, die schnell zogen und auf baldigen Sturm hindeuteten. Ich machte es mir mit einem Buch vor dem Kaminfeuer bequem und wartete auf die ersten Kinder.

Irgendwann schreckte ich auf. Das Feuer war ausgegangen, nur noch ein Rest Glut glomm im Kamin und warf einen geisterhaften Schatten an die Wände. Ein Blick auf die Kaminuhr sagte mir, dass es schon nach zehn Uhr war. Ich musste eingeschlafen sein. Von der Hintertür her hörte ich ein Schleifgeräusch und ich fragte mich, ob ich davon wach geworden war. Ich stand auf und wollte schon nachsehen, da schepperte es auf der anderen Seite des Hauses. Ich kannte das Geräusch gut: So klang es, wenn die Haustür ins Schloss fiel.
Im Flur fiel mir sofort der dreckige Boden auf. Neben der Tür hatte ich eine Schüssel mit Süßigkeiten hingestellt. Jetzt war sie umgekippt, ein Teil des Inhalts auf dem Boden verteilt und der Rest in der Schüssel war nass und matschig, als hätte ein Tier den Kopf hineingesteckt und darauf herumgekaut. Draußen vor der Tür lagen schleimige orangerote Fetzen. Jemand hatte den beleuchteten Kürbis auf meiner Treppe zu Brei verarbeitet. Ich wurde wütend über diesen sinnlosen Vandalismus, aber auf der Straße war niemand zu sehen.

In diesem Moment riss der Wind ein Loch in die Wolken hoch oben und sie gaben einen Moment lang den Blick auf den Mond frei. Dick und monströs hing er am Himmel und kippte sein gelbliches Licht über der Welt aus. Ich erschrak zu Tode. Ohne, dass ich es gemerkt hatte, war die Nacht der Toten gekommen und in diesem Jahr mit Halloween zusammengefallen.
Ich malte mir aus, in welcher Gefahr die Kinder schwebten, die auf der Jagd nach Leckereien durch die Straßen zogen. Da sprang ein hüfthohes schorfiges Wesen aus meiner Weißdornhecke und schnappte nach meinem Knöchel. Es trug einen Umhang und einen Hexenhut; um den Mund waren Schokoladenflecken zu sehen und während es mich abwechselnd zu Fall zu bringen und zum Friedhof zu zerren versuchte, rief es begeistert: »Saures! Saures!«
Ich trat ihm in die Magengrube, dass es in den Kürbismatsch am Boden flog und sagte mir, dass das kein echtes Kind war. Dann rannte ich ins Haus und legte den Riegel vor.

Erleichtert über mein knappes Entkommen lehnte ich mich gegen die Haustür, als mir der Lärm an der Hintertür wieder einfiel. Ich kam gerade rechtzeitig, um zu beobachten, wie einige knochige Hände vom Friedhof her über die Mauerkrone langten. An manchen von ihnen hingen Arme, an anderen sogar vollständige Skelette. Meine Hintertür stand offen und ich eilte hin, um sie zu verriegeln.
Plötzlich flog das alte Tor in der Mauer auf und zusammen mit einem Nebelschwall drang ein Schwarm riesiger untoter Krähen in den Garten ein. Ich warf schnell die Tür zu und hörte, wie die Vögel flügelflatternd landeten. Einige hatten keine Federn, andere nicht einmal mehr Flügel. Aber alle verfügte über scharfe Schnäbel, mit denen sie gegen die Tür und das Fenster pickten.
Die Knochenhände und –arme robbten und krochen derweil durch den Garten und diejenigen, die es zum Haus geschafft hatten, begannen an der Tür zu rütteln und zu kratzen. Am Fenster tauchten Skelette auf und schlugen ihre Knochenköpfe gegen die Scheibe. Dabei grinsten sie höhnisch – sie konnten nicht anders.
Die Fensterläden zu schließen kam jetzt natürlich nicht mehr infrage, aber mir war klar, dass die Tür und das Fenster diesem Angriff nicht mehr lange standhalten konnten.
Ohne Vorwarnung sprang ein höllischer Hund durch die offene Tür vom Friedhof in den Garten. Sein Fell war tiefschwarz, wies aber kahle Stellen auf und es fehlte eine Menge Fleisch. Dafür waren seine Zähne vollständig und damit schnappte er nach jedem Knochen, den er finden konnte. Es gab einige von ihnen.

Einer Eingebung folgend griff ich mir die Schüssel mit den restlichen Süßigkeiten und rannte in den ersten Stock hinauf. Vom Schlafzimmerfenster aus sah ich, wie die Skelette auf der Flucht vor dem dämonischen Hund kopflos durcheinander rannten – manche buchstäblich. Die Arme und Hände kratzten nach dem Hund, einige hatten sich in sein Fell gekrallt und wurden mitgeschleift. Andere lagen zerkaut und geborsten auf dem Rasen. Die Krähen wirkten beunruhigt, manche attackierten ebenfalls den Hund, der gerade die ersten Skelette zurück auf den Friedhof jagte.
Ich öffnete das Fenster, griff in die Schale und warf mit aller Kraft eine Handvoll Schokolade und Bonbons nach draußen.
Vögel bleiben Vögel, egal ob untot oder nicht. Sie stürzten sich auf das Wurfgut und stritten sich um jedes Stück. Einige fielen dabei dem rasenden Hund zum Opfer, aber die meisten zogen sich mit ihrer Beute auf den Friedhof zurück. Schließlich beruhigte sich die Situation so weit, dass ich die Fensterläden schließen und mich im Keller verbarrikadieren konnte.

Auch diese Nacht ging vorbei. Am nächsten Tag sammelte ich die toten Vögel und alle Knochenreste zusammen und warf sie über die Friedhofsmauer. Für das nächste Jahr denke ich über die Anschaffung eines Vogelnetzes nach.
Der Sommer wird angenehm ruhig verlaufen. Aber wenn die Tage wieder länger werden – das nehme ich mir vor – werde ich jetzt immer einen Vorrat an leichten, gut werfbaren Süßigkeiten im Haus haben.

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